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Tipp für sicherheitsbewußte Familien

Die Kinder in die Selbstständigkeit zu entlassen, fällt vielen Eltern schwer. Dabei ist es im Interesse der Sprösslinge, Dinge alleine zu können.

Den Schulweg zu meistern gehört dazu. Deshalb sollten Eltern schon Erstklässler nicht mit dem Auto zur Schule chauffieren.

Vorsicht, Eltern!

Väter und Mütter versuchen alles, damit ihr Nachwuchs eine perfekte Kindheit erlebt. Entsteht so eine Generation von überbehüteten Mittelstandssprösslingen? Und warum sind Helikoptereltern so? Geht es wirklich um die Zukunft ihrer Kinder – oder nicht eher doch um ihre eigenen Zukunftsängste?

Berlin. Hubschrauber gehören zu den nervigsten Verkehrsmitteln, die es gibt. Sie produzieren viel Lärm und viel Wind und verwenden ihre viele Kraft nur für wenige Nutznießer. Seit einigen Jahren nutzen nun auch ganz normale Eltern von ganz normalen Kindern verstärkt den Hubschrauber. Nicht zur Fortbewegung, obwohl es ihnen bestimmt durchaus gelegen käme, wenn ihnen statt der mühsamen Anlieferung des Nachwuchses per Elterntaxi im morgendlichen Berufsverkehr ein privater Landeplatz auf dem Dach von Kindergarten oder Schule zur Verfügung gestellt würde.

Der sprichwörtliche Helikopter der gleichnamigen Eltern ist Überwachungs-, Rettungs- und Kampfeinheit in einem. Denn die überfürsorglichen Väter und Mütter begleiten ihre Sprösslinge auf Schritt und Tritt, erledigen ihre Hausaufgaben, vermeiden “gefährliche“ Spielsachen, achten auf den richtigen gesellschaftlichen Umgang für das Kind und wollen Niederlagen und Unannehmlichkeiten für ihre Kleinen und Großen verhindern. Von der Zeugung bis zum Schulabschluss, manchmal sogar bis zur Promotion, schwebt der Hubschrauber stets über dem Nachwuchs, bereit, jede Sekunde zur Rettung zu eilen oder Hindernisse aus dem Weg zu räumen.

“Das Kind wird von den Eltern unbewusst nicht als eigenständiges Wesen betrachtet, sondern als Teil ihrer selbst“, sagt der Bonner Kinder- und Jugendpsychiater Michael Winterhoff. Er warnt vor Eltern, die nicht in der Lage seien, sich von ihren Kindern abzugrenzen und ihnen Vertrauen zu schenken: Das beeinträchtige die Persönlichkeitsentwicklung der Kinder massiv.

Angst und Dauerüberwachung

Der Begriff “Helikoptereltern“ ist längst zum festen komödiantischen Thema geworden. In den Buchhandlungen gesellen sich neben die laufenden Kilometer von Erziehungs- und Elternzeit-Ratgebern nun Helikopter-Humor-Bände. Einer trägt den Titel “Verschieben Sie die Deutscharbeit – mein Sohn hat Geburtstag!“ und stammt von den Journalistinnen Lena Greiner und Carola Padtberg. Sie füllen ein ganzes Buch mit entlarvenden Beobachtungen. Anonymen Beobachtungen natürlich, denn es scheint gefährlich zu sein, sich über den Überwachungsmainstream lustig zu machen. Da berichtet ein Einsender, nach dem Kauf eines Hauses hätten die Eltern flugs den alten Apfelbaum im Garten gefällt. Begründung: Es sei nicht zu verantworten, dass dem Kind beim Spielen einmal ein Apfel auf den Kopf fallen könnte.

Zudem, wäre hinzuzufügen, ist das Kind so davor gefeit, zu hoch auf den Baum hinaufzuklettern und sich beim Fallen schwer zu verletzen. Wer lässt seine Kinder eigentlich noch klettern? Denn hier kommen die Eltern nicht hinterher, da müssten sie schon – welche Ironie – einen echten Helikopter bemühen, um ständig überwachen zu können. Also bleiben nur drei Möglichkeiten und ein Dilemma: entweder verbieten (das wäre zu altmodisch) oder den Kindern vertrauen, dass sie selbst vorsichtig genug sind. Die Helikoptereltern-Methode wäre die dritte: dem Nachwuchs so viel Angst zu machen, dass er sich gar nicht mehr auf den Baum traut.

Es gibt das Gegenprogramm: Freiheit und Verantwortung zugleich. “Warum dänische Kinder glücklicher und ausgeglichener sind“ heißt ein gerade auf Deutsch erschienener Ratgeber der Amerikanerin Jessica Joelle Alexander und der dänischen Familientherapeutin Iben Dissing Sandahl. Sie schreiben unter anderem über den “inneren Kompass, der die Kinder durchs Leben führt“. Der aber kann nur funktionieren, wenn er nicht ständig durch das Kreisen des Helikopters abgelenkt wird. Und wenn er die Realität nicht ausblendet.

Zahlen für ein bisschen Faulheit

Dänische Märchen wie die von Hans Christian Andersen haben kein Happy End – und ja, sie speichern sich mutmaßlich ein Leben lang im Gehirn ab, in der Ecke, die für Traurigkeit zuständig ist. Aber ist das ein Trauma? Oder der Weg zu einer vollständigen Persönlichkeit?

Helikopter können zwar in der Luft stehen, müssen dafür aber ständig rotieren. Aber Eltern haben auch ein Recht auf Faulheit. Der Brite Tom Hodgkinson hat den Antiratgeber “Leitfaden für faule Eltern“ geschrieben. Die Faulheit, die er propagiert, hat mit Vernachlässigung und Verantwortungslosigkeit nichts zu tun. Er will nur dazu ermuntern, dass die Helikopter auch einmal landen, die Rotoren einklappen und zum Stillstand kommen dürfen. Und dazu, dass die Kinder sich ihren eigenen Weg suchen. Seine Lieblingsvorstellung sei die eines freien Feldes, auf der einen Seite ein Unterholz, auf der anderen ein Biergarten. Die Eltern lassen es sich im Biergarten gut gehen, die Kinder spielen untereinander. Wenn eines von ihnen eine Frage hat, einen Wunsch oder eine Wunde, kommt es herübergelaufen. Alle sind zufrieden und daher freundlich zueinander.

Die Ironie ist: Für genau diese Momente zahlen Eltern einen Haufen Geld. Sie berappen, ohne mit der Wimper zu zucken, 10 Euro Eintritt (Kinder und Erwachsene kosten dasselbe) für einen überdachten Spielplatz. Die Eltern bestellen einen überteuerten Kaffee und haben ein paar Minuten Ruhe – ja, bis die Kinder einen ekelhaften “Monster Slush“ für 5 Euro das Stück verlangen. Für einen wie Hodgkinson sind solche Orte der Horror. Er hat ja nicht umsonst von einem freien Feld geschrieben, auf dem die Kinder herumtoben. Jeder Ausflug in den Freizeitpark sei mit Streit (auf der Hin- und Rückfahrt und während des Besuchs), drohendem Bankrott der Familie und kompletter Reizüberflutung verbunden. Sein Fazit: Bleibt zu Hause und werdet kreativ!

Zwischen Eislaufmuttis und Abstiegsängsten

Bei dieser Forderung spaltet sich die Helikopter-Armada. Die einen werden sagen: Für mein Kind scheue ich weder Kosten noch Mühen, und wenn es einen Themengeburtstag im Piratenpark haben will, zahle ich dafür auch den hohen Preis. Die anderen sagen: “Monster Slush“ ist nicht aus Dinkel und daher das ganze Unternehmen inakzeptabel. Die Dritten bemängeln die hedonistisch-eventorientierte Klientel und bleiben aus Statusdünkel fern.

Denn Helikoptereltern sind nicht alle gleich. Eislaufmuttis und Fußballväter gab es auch schon vor 30 Jahren, und ebenso Eltern, die bereits bei der Grundschulanmeldung einen Anwalt bemühten, um ihren Nachwuchs auf keinen Fall mit den Unterschichtkindern aus dem Neubaublock auf eine Schule schicken zu müssen. Statusfragen und das Mogeln auf der Startlinie des Bildungswettbewerbs sind nichts Neues.

Was neu ist oder zumindest stark zugenommen hat: die Abstiegsängste der Mittelschicht und der damit verbundene krampfhafte Versuch, den Nachwuchs von allem Unbill und damit verbundenen Traumatisierungen fernzuhalten. Greiner und Padtberg zählen seitenlang Beispiele von extrem irritierten Universitätsdozenten auf, die übergriffigen Eltern erklären müssen, dass es an der Universität keine Elternabende mehr gibt. Wie sollen sie das auch wissen in einem System, das minderjährige Abiturienten in verschulte Universitäten entlässt? Es scheint nur eine Frage der Zeit, bis auch deutsche Hochschulen eine eigene Campuspolizei wie in den USA einführen, damit die Eltern ihre Sprösslinge überhaupt in eine andere Stadt ziehen lassen.

“Projektkinder“ der “Edel-Eltern“

Das Böse lauert gerade im Alltag: Weißmehl und Straßenverkehr, fiese Mitschüler und langweilige Nachmittage. Müssten Eltern nicht einfach sagen: Niederlagen und Frustrationen gehören dazu, lassen ein Kind wachsen und selbstständig werden? Muss alles perfekt, alles bedacht sein? Und ist es nicht gerade traumatisierend, seine Zehnjährige nicht nur mit einem Fahrradhelm, sondern auch mit einem Rückenprotektor, also einem gepolsterten Lederschutz, auszustatten, wenn man sie Rad fahren lässt (ein weiteres Beispiel aus Greiners und Padtbergs Buch)?

Eine Wahl haben ohnehin nur die, die es sich leisten können. Die “taz“-Journalistin Anja Maier, Autorin der treffend bösen Prenzlauer-Berg-Studie “Lassen Sie mich durch, ich bin Mutter“, spricht von den “Projektkindern“ der “Edel-Eltern“. Ein spätes Einzelkind, dessen Eltern die Welt gesehen, Karriere gemacht und alle Eventualitäten bedacht haben. Die für sich selbst keine Entschuldigung haben, von irgendetwas überrascht zu werden. Irgendetwas spontan zu entscheiden. Sie können alles planen, außer einer Sache: dass es ihrem Kind wirklich einmal besser geht. Das muss es wahrscheinlich selbst hinbekommen, denn die Rezepte der alten Generation werden nicht mehr lange taugen.

In der WDR-Radioserie “Johann Königs Helikoptereltern“ beschreibt Comedian König, wie er seinen Sohn einmal im Bus mit seinem Gürtel am Sitz festgebunden habe, weil der Kleine bei einem abrupten Bremsen zuvor fast gegen den Vordersitz geknallt wäre. Die anderen Eltern im Bus fanden das anscheinend nachahmenswert. “Leute, das war doch nicht ernst gemeint, das war ironisch! Der Gürtel war der Spiegel, den ich euch vorhalte, für das übertrieben Vorsichtige, das am Ende zu Unfreiheit führt.“

Von Jan Sternberg

Artikel veröffentlicht: Samstag, 18.11.2017 15:59 Uhr

https://www.maz-online.de/Nachrichten/Panorama/Vorsicht-Eltern